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«Die frühe Kindheit ist das wichtigste Interventionsfeld der Prävention»

Ausgabe Nr. 128
Sep. 2020
Kinder und Jugendliche

5 Fragen an den Experten für Prävention und Sozialpolitik Martin Hafen von der Hochschule Luzern. Er forscht und lehrt in unterschiedlichen Präventionsfeldern, insbesondere im Bereich der frühen Kindheit.

Martin Hafen, Dozent und Projektleiter an der Hochschule Luzern

Herr Hafen, warum ist die Phase der frühen Kindheit so wichtig für die spätere Gesundheit?

Die ersten vier, fünf Lebensjahre sind so entscheidend, weil da die Grundlagen für die gesundheitliche, körperliche und psychosoziale Entwicklung gelegt werden. Risikofaktoren wie emotionale Vernachlässigung oder häusliche Gewalt wirken sich in den ersten Lebensjahren so stark auf die Gesundheit aus wie später nie mehr. Chronischer Stress oder Gewalterfahrungen in den ersten Lebensmonaten haben nachweislich lebenslange Auswirkungen auf die psychische und soziale Gesundheit und die kognitiven Fähigkeiten eines Menschen.

Wie wirken Massnahmen der frühen Förderung in Bezug auf Prävention und Gesundheitsförderung?

Frühe Förderung verstehe ich breit: Sie umfasst alle Massnahmen, die Familien dabei unterstützen, ihren Kindern ein gesundes Aufwachsen zu ermöglichen. Das sind z. B. eine Elternzeit, qualitativ hochstehende Kinderbetreuungsangebote, Elternbildung oder Mütter- und Väterberatung. Aber auch die medizinische Betreuung, schon vor der Geburt, oder spezifische Massnahmen für Kinder mit Förderbedarf gehören dazu. Wenn all diese Massnahmen zur Verfügung stehen und mit hoher Qualität eingesetzt werden, senkt dies Risikofaktoren wie Stress und stärkt die Schutzfaktoren wie ein positives Selbstwertgefühl der Kinder. So kann das Kind in jungen Jahren seinen Rucksack an Lebenskompetenzen füllen, der es sein Leben lang begleiten wird. Hier werden die entscheidenden Weichen für die Chancengerechtigkeit gestellt. Die frühe Kindheit ist demnach das wichtigste Interventionsfeld von Prävention und Gesundheitsförderung.

Wann sind Massnahmen der frühen Förderung besonders wirksam?

Den grössten Effekt erzielen Massnahmen, die bei sozioökonomisch benachteiligten Familien ansetzen. Hier zahlen sich Investitionen am meisten aus, weil der Staat in der Folge Gesundheits- und Sozialkosten einspart. Diese Massnahmen alleine reichen aber nicht aus. Es braucht auch Strukturen und Massnahmen, von denen sämtliche Familien profitieren, zum Beispiel im Bereich der familienergänzenden Kinderbetreuung.

Vulnerable Gruppen sind bekanntlich schwer erreichbar. Wie kann ihr Zugang zur frühen Förderung verbessert werden?

Das Problem ist, dass die vulnerablen Familien aus dem Blickfeld verschwinden, sobald sie aus dem medizinischen Umfeld rund um Schwangerschaft und Geburt ausgetreten sind. Erst mit Kindergarteneintritt tauchen sie wieder auf. Ein vielversprechender Ansatz, den wir im Rahmen der NCD-Strategie im Auftrag des BAG gerade testen, ist die «familienzentrierte Vernetzung». Dabei geht es nach dem Vorbild der «Frühe-Hilfen-Netzwerke» aus Österreich darum, vulnerable Familien mit einer speziellen Stelle zu begleiten. Eine solche Stelle würde Familien im Sinne eines Fallmanagements konkrete Unterstützung bieten. Sie wäre immer ansprechbar und würde die Familien nach Analyse des Bedarfs darin unterstützen, die nötige Hilfe von den bestehenden Fachstellen zu erhalten. Das kann zum Beispiel eine Schuldenberatung sein, die Organisa­tion eines Kitaplatzes oder eine psychologische Betreuung der Mutter bei einer postnatalen Depression.

Was können wir in diesem Bereich von unseren Nachbarländern Deutschland oder Österreich lernen?

Was in der Schweiz bereits geschieht, ist die Vernetzung der Institutionen des Frühbereichs untereinander – zum Beispiel mit dem Programm Primokiz der Jacobs Foundation. Was aber fehlt, ist die vorher erwähnte systematische Begleitung vulnerabler Familien. Im Rahmen einer Studie möchten wir deshalb vier oder fünf mögliche Modelle für die Schweiz erarbeiten. Darüber hinaus braucht es Verbesserungen für alle Familien: Die familienergänzende Kinderbetreuung muss günstiger werden. Wir müssen dem Fachkräftemangel begegnen und in die Qualität der frühen Förderung investieren.

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Kontakt

Prof. Martin Hafen
Dozent und Projektleiter Institut Sozialmanagement
Sozialpolitik und Prävention an der Hochschule Luzern

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